Zum neuen Schul- und Ausbildungsjahr in NRW ist einer wieder nicht dabei. Trotz aller Versuche hat ein 34-Jähriger noch keinen Abschluss, mit seinen Behinderungen keinen Platz gefunden, wie er sagt.
Jan Christopher Weber ist 34 Jahre alt und würde gerne etwas erreichen im Leben – aber vor ihm türmen sich gewaltige Barrieren auf. Er ist noch immer ohne Schul- und Berufsabschluss. Trotz aller Anstrengungen, früher Förderung, auch vieler engagierter Akteure ist der körper- und sehbehinderte junge Mann aus Münster „durch alle Raster gefallen“, wie er sagt. In NRW beginnt bald wieder die Schule, das Ausbildungsjahr hat begonnen und Jan Christopher Weber geht – wie auch in vielen Jahren zuvor – leer aus.
„Inklusion findet nicht statt, sie ist verhängnisvoll gescheitert“, meint seine Mutter. Die Hoffnung ihres Sohnes auf ein eigenfinanziertes Leben schwinde. „Es liegt nicht am guten Willen von vielen. Aber mit seiner Körperbehinderung und seiner Sehbehinderung findet er keinen Platz im System.“ Der Leidensdruck wachse, jahrelange Versuche ihres Sohnes seien erfolglos geblieben, mit seinen Beeinträchtigungen in Ausbildung zu kommen.
Seit 2009 gilt UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland
Die UN-Behindertenrechtskonvention betont das Recht auf einen gleichberechtigten Zugang zu schulischer und beruflicher Ausbildung für Menschen mit Behinderung. Der Anspruch ist, „persönliche Begabungen, körperliche und geistige Fähigkeiten zur Entfaltung zu bringen“. Zudem sieht die UN-Konvention das Recht auf die Möglichkeit vor, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, „die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird“.
Rückblick im konkreten Fall
Jan Christopher Weber lebt von Geburt an mit der Krankheit Hydrocephalus, umgangssprachlich Wasserkopf genannt. Er hat etwa 30 Operationen hinter sich, am Kopf, auch an den Beinen und Füßen, bewegt sich im Rollstuhl und an Gehhilfen. Sein Sehvermögen beträgt rund 30 Prozent. Er sucht seit langem bundesweit auch bei Integrationsfachmessen nach Möglichkeiten, arbeitet ehrenamtlich seit 2011 in der Behindertenkommission der Stadt Münster mit, wird dort wohl bald mit einer Gruppensprecher-Führungsrolle betraut.
In Spielgruppe, Kita und Grundschule lief es noch rund, erzählt er. Probleme kamen dann mit dem Wechsel zur weiterführenden Schule 2002. Von Inklusion war in der Schullandschaft damals noch nicht die Rede, jahrelang fuhr er täglich ins rund 30 Kilometer entfernte Emsdetten – dort gab es eine integrativ arbeitende Realschule. Mehrere Operationen 2007 und 2008 hätten ihn immer wieder aus dem Konzept gebracht, er habe nach Klasse zehn keinen regulären Schulabschluss geschafft, schildert Jan Christopher Weber.
Er suchte vergeblich ein geeignetes Berufsbildungswerk. Für eine staatliche Internatsschule im baden-württembergischen Neckargemünd – dort hätte er einen Schulabschluss nachholen und zwei Berufsvorbereitungsjahre machen können – habe er keine Kostenübernahme vom Landschaftsverband Westfalen Lippe (LWL) bekommen. Stark verspätet sei er 2008 an ein Berufsbildungswerk in Volmarstein gekommen, habe Versäumnisse nicht aufholen können, weitere Fehlzeiten wegen Operationen und Reha angehäuft – sei „krachend gescheitert“.
LWL sieht Defizite in Arbeitsmarkt und Bildungssystem
„Der Fall ist ein bedrückendes Beispiel dafür, wie sehr unser Arbeitsmarkt und Bildungssystem noch immer versagt, wenn es um echte Inklusion geht“, sagt LWL-Sozialdezernent Takis Mehmet Ali. „Es braucht endlich verbindliche, barrierefreie Bildungs- und Ausbildungswege, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren – nicht an starren Systemgrenzen.“
Er sieht Bund und Land in der Pflicht, hier mehr zu tun – und das auch fernab von der klassischen dualen Ausbildung. „Wer will und kann, muss eine echte Chance auf Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben bekommen – alles andere ist ein gesellschaftliches Versäumnis“, betont Ali auf dpa-Anfrage. Es sei eine gemeinsame Anstrengung nötig, der LWL alleine schaffe das nicht.
Jan Christopher Weber versuchte es auch mit Praktika, klopfte in mehreren Berufsbildungswerken an, wie er schildert. Waren diese auf handwerkliche, technische Arbeiten fokussiert, sei das für ihn mit seiner Körperbehinderung nicht infrage gekommen. Lag der Schwerpunkt auf dem Feld Sehen, habe man ihn abgelehnt, weil seine Sehfähigkeit als zu gut für die speziellen Angebote bezeichnet worden sei, sagt der 34-Jährige.
Schulministerium und Sozialministerium nennen Optionen
Für einen Zugang zur dualen Ausbildung bestehen formal keine Zugangsvoraussetzungen wie zum Beispiel ein Schulabschluss, erläutert das NRW-Sozialministerium. „Voraussetzung für ein Ausbildungsverhältnis ist lediglich ein Ausbildungsvertrag.“ Weil es für Menschen mit Behinderung hier aber oft schwieriger sei, gebe es etwa die Aktion „100 zusätzliche Ausbildungsplätze für Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderung in NRW“, um sie in der Nachvermittlungsphase besonders zu unterstützen.
Für Menschen im höheren Alter haben Berufsförderungswerke oder Berufsbildungswerke laut Ministerium einige Angebote. Machten Art oder Schwere einer Behinderung eine Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf unmöglich, könne ein Berufsabschluss über eine Fachpraktikerausbildung eine Option sein. Das Schulministerium betont, für Schüler mit Behinderungen gebe es eine breite Palette an Unterstützungen, auch bei der Berufsorientierung. Im höheren Alter könne an Abendrealschulen ein Abschluss nachgeholt werden.
Oder eine Nische finden?
Ein damaliger Realschullehrer habe zu ihrem Sohn gesagt: „Du bist kein Kandidat für die Werkstatt. Du solltest eine Nische im öffentlichen Dienst finden“, berichtet dessen Mutter. Sie hofft, dass aus der ehrenamtlichen Tätigkeit künftig eine bezahlte Anstellung wird. Die in Münster oppositionelle CDU drängt auf eine deutlich höhere städtische Beschäftigungsquote für behinderte Menschen, wie die arbeitsmarktpolitische Sprecherin Babette Lichtenstein van Lengerich auf dpa-Anfrage sagt.
Jan Christopher Weber wünscht sich schnell eine Chance: „Man müsste meine beiden Behinderungen zusammen in den Blick nehmen. Je länger ich warten muss, desto schwieriger wird es für mich, eine Arbeit zu finden.“