„Das Tier bringst du nicht um“: Ausgerechnet ein Schlachter rettet ein Kälbchen vor dem Tod

Ein Bauer will ein kleines Kälbchen mit Fehlbildung loswerden, doch der Schlachter weigert sich, das Tier zu töten. So beginnt die Geschichte von Hugo, dem Ochsen – der inzwischen auffallend groß ist.

Sein Tod ist schon beschlossen, doch im entscheidenden Moment sieht das Kälbchen den Schlachter mit seelenvollen, großen Augen an. Das ist sein Glück, denn dieser Schlachter, Lothar Fornfett, sagt zu sich: „Das Tier bringst du nicht um.“ So kommt Hugo – wie Fornfetts Tochter den kleinen Bullen nennt – schließlich auf den Hof des 68-Jährigen in Edemissen im Landkreis Peine. 

Das Kalb kommt vor fünf Jahren mit verkürzten Sehnen zur Welt, kann daher nicht stehen. Eine Operation hätte etwa 350 Euro gekostet – zu viel Geld für den Bauern, der den Wert des Kälbchens damals nach Fornfetts Worten auf 100 Euro taxiert. Also ruft er den Schlachter. Doch der kann es nicht übers Herz bringen, sagt immer wieder: „Nein, den schieße ich nicht tot.“ Schließlich ruft der Bauer, schon etwas genervt: „Dann schenke ich ihn dir!“ 

Ein Tierarzt operiert Hugos Sehnen, legt beide Vorderbeine in Gips. Nach einiger Zeit springt das Kalb schließlich über den Hof, als habe es nie etwas anderes gekannt. Er habe eine Patrone für 50 Cent gespart, dafür aber eine dreistellige Tierarztrechnung bezahlen müssen, scherzt Fornfett. Seine damals fünfjährige Enkelin Jana zieht das kastrierte Kalb mit der Flasche groß, die ganze Familie umsorgt das Tier. Hugo sei wie ein Hund, fast wie ein Familienmitglied für ihn, sagt der 68-Jährige. 

Ein Beruf, den er nie wollte: Schlachter 

Es scheint unglaublich, dass ausgerechnet ein Schlachter einem Tier das Leben rettet. Doch Fornfett, inzwischen im Ruhestand und früher selbstständiger Fleischermeister, sagt ganz klar: „Ich wollte nie Schlachter werden.“ Seine Eltern hätten eine Fleischerei gehabt, so sei er zu dem Beruf „gezwungen“ worden – sein Vater habe darauf bestanden. So habe er schon im Alter von zehn Jahren in der Fleischerei helfen müssen – für vier bis fünf Stunden nach der Schule. 

Mit zwölf Jahren sei er zum ersten Mal dabei gewesen, als ein Schwein geschlachtet wurde, erinnert sich der 68-Jährige. Nach dem 20. Schwein werde das Töten langsam zur Routine, obwohl: „Ich liebe immer noch Tiere und wäre viel lieber Landwirt geworden.“ Mit 21 muss er das Geschäft seiner Eltern übernehmen. Zu seinem Beruf sagt er: „Ich will keine Tiere umbringen – obwohl ich in meinem Leben über 20.000 Tiere töten musste.“ Sein Lebtag sei er nie glücklich im Beruf geworden. 

„Der ist so was von zahm“ 

Später erwirbt er einen Hof im Ortsteil Alvesse, wird gewissermaßen Hobby-Landwirt. Und dort ist das Kälbchen von Anfang an ein Star, Besucher bringen ihm in Milch aufgeweichte Brötchen mit. „Der ist so was von zahm“, sagt Fornfett. 

Interessant: Hugos Mutter ist eine schwarz-weiße Schleswig-Holsteinische Milchkuh, sein Vater ein braun-weißer Fleckviehbulle. So ändert sich Hugos Fellfärbung in den ersten Lebenswochen von braun-weiß zu schwarz-weiß. 

Bundesweit über 280.000 Kälber geschlachtet 

Nach Angaben des niedersächsischen Landvolks gelten die Tiere bis zum Alter von acht Monaten als Kälber. Geschlachtet werden sie demnach, weil es Abnehmer gebe. Zuvor aber würden Kälber „vernünftig und tiergerecht versorgt, egal ob männlich oder weiblich“, sagt eine Landvolk-Sprecherin. Um Kalbfleisch anbieten zu können, werden ihren Worten zufolge vor allem männliche Kälber von Milchnutzungsrassen geschlachtet, die für die Bullenmast wenig geeignet sind. 

Im vergangenen Jahr seien bundesweit 288.167 Kälber inländischer Herkunft gewerblich geschlachtet worden – allein in Niedersachsen seien es 128.556 Tiere gewesen, sagt die Sprecherin. Zum Vergleich: 1994 werden in ganz Deutschland noch 480.910 Kälber geschlachtet. Laut Landvolk sind Kälber derzeit auf dem Markt einiges wert: Für ein schwarzbuntes Bullenkalb erhalten Milchviehhalter demnach um 300 Euro – im Sommer sogar Spitzenpreise von bis zu 490 Euro. 

Hugo mag keine Wölfe und Hunde 

Diese Rechnung hat für Hugo keine Bedeutung mehr: Denn heute ist der Ochse über zwei Meter groß, wiegt mehr als eine Tonne und lebt auf einer Weide mit sechs Jungrindern – er ist deren „Wachhund“, wie Fornfett sagt. Denn: „Hunde und Wölfe mag er nicht.“ Auf den 68-Jährigen allerdings galoppiert der riesenhafte Ochse, der die Jungrinder weit überragt, mit Begeisterung zu – vor allem, wenn er Äpfel mitbringt. Hugo komme sofort, wenn er jemanden von der Familie sehe, erzählt der Ex-Schlachter. Enkelin Jana besuche ihn regelmäßig. 

Im Grunde aber könne jeder auf die Weide zu Hugo, um ihn zu streicheln, sagt der 68-Jährige – nur eben Hunde und Wölfe sollten sich besser fernhalten. Anderswo gibt es spezielle Wolfszäune, Fornfett dagegen verlässt sich auf Hugo und dessen schiere Größe. Es ist tatsächlich ein eindrucksvolles – und einschüchterndes – Bild, wenn der riesige Ochse im Galopp heranrauscht. In der Nachbarschaft hätten Wölfe etwa ein Pferd gerissen, weiß der 68-Jährige. 

Lebenslanges Wohnrecht 

Fest steht: Hugo bleibt bei Familie Fornfett, im Winter zieht er wieder in den Stall auf dem Hof: „Hugo hat lebenslanges Wohnrecht“, betont der frühere Schlachter. Das ist wohl auch besser so: „Den darf ich nicht anfassen, sonst kriege ich Ärger mit meiner Tochter und Enkeltochter.“