Die Deutsche Bahn bekommt eine neue Chefin, unter der alles besser werden soll – schon bald! Unserem Kolumnisten Micky Beisenherz geht das zu schnell.
Umarme die Langsamkeit! Jetzt, da alles sich ändern wird, muss man auch einfach mal dankbar sein. Für die gewonnene Zeit. Wäre es mir möglich gewesen, diesen Text zu schreiben, würde ich nicht auch heute seit einiger Zeit stehen, irgendwo in der Peripherie zwischen Kläden und Stendal? Entschleunigt, ohne störende Einflüsse wie Internet und Handyempfang. Da kommt man doch in den Flow, da fließen die Gedanken. Nirgendwo schreibe ich effizienter!
Ob das demnächst noch möglich ist, wenn die Bahn sich einfädelt in die Selbstoptimierungsdynamiken der Neuzeit, die uns kaum mehr Luft zur Kontemplation lassen? Werden wir demnächst achtlos an unserer Gegenwart vorbeirauschen, ohne Gelegenheit, bei einem vierstündigen Zwischenhalt die Eichen in der Altmark zu bewundern? Wird uns bald die Chance genommen, mit Blick aus dem schlierigen Fenster darüber nachzudenken, warum Uelzen wie ein unanständiges Verb klingt? Mir werden die aufmunternden Rufe der gesichtstätowierten Biertrinker am Bahnhof Hagen fehlen, dass der kaputte Güterzug auf deinem Gleis vor dir bestimmt bald weggezogen wird. Ich werde den Vater vermissen, der mit dem kleinen Melvin im Familienabteil zwölf Stunden in Rotenburg (Wümme) steht und seinen nächsten Verwandten endlich mal richtig kennenlernt. Nach der 36. Runde Uno kickt das Oxytocin!
Wer noch nie kurz vor dem Verhungern ein Eibrötchen aus der Tupperdose eines barfüßigen Informatikers gekostet hat, der hat doch nie gelebt! Es gibt wenig Erhebenderes, als nach Stunden des Stillstandes einen vor Wut und Hass fluchenden Mann tröstend an die Brust zu drücken mit den Worten: „Mensch, als Schaffner kriegen Sie doch bestimmt einen Schokoriegel im Bordrestaurant günstiger.“
Nie bin ich mehr Teil einer Gruppe als in der Bahn. Nie lebe ich intensiver. Firmen zahlen viel Geld für Teambuilding-Maßnahmen ihrer Beschäftigten. Die kultige DB leimt als Erlebnisröhre auseinanderdriftende Bevölkerungsteile zusammen.
Wird das mit Evelyn Palla anders werden? Die Südtirolerin wurde jüngst als neue Chefin der Deutschen Bahn verkündet. Als erste Frau. Mit einer Verzögerung von 190 Jahren. Das wäre sogar für die Strecke Berlin – Köln recht viel. Mit der Neuen an der Spitze soll der grassierende Effizienzwahnsinn aufgegleist werden. Schon 2029 soll es anders werden. Mir geht das zu schnell! Hier ist mein Safe Space bedroht.
Micky Beisenherz über seine Reisen mit der Deutschen Bahn
Gerne spielen wir Bahnreisenden „Bummel-Bingo“ und rufen bei jedem außerplanmäßigen Halt den möglichen Grund des aktuellen Ausfalls rein. „Böschungsbrand“, „defekte Weiche“, „Personen im Gleis“. Über schöne, neue Begriffe wie „Betriebsstabilisierung“ freuen sich alle. Und wenn kurz nach dem Wort „Signalstörung“ ein Rentner in die Stille „Danke, Putin!“ ruft, na, dann bebt doch das Abteil vor guter Laune!
Die Reisenden im ICE, das ist die bessere Gesellschaft, ein Volk, das es da draußen nicht mehr gibt. Hier wird der Zusammenhalt gelebt. Unvergessen, der unverhohlene Stolz des Zugführers, wenn er durch die Lautsprecher fast ungläubig ansagt, dass wir den Ziel- und Endbahnhof Köln pünktlich erreichen. Danach ging er High Five gebend durch die Reihen wie einst Robert Habeck beim Grünen-Parteitag.
Sicher, ich kenne auch das zersetzende Gerede. „Die Gleise sind in einem Zustand, dass selbst die Ludolfs entsetzt abwinken würden.“ – „Ankunftszeiten sind wie Fotos bei McDonald’s – allenfalls ein unverbindlicher Serviervorschlag.“
Wenn Fremde zu Freunden werden
Ja, es stimmt. Die Bahn war vor ein paar Jahren schon deutlich pünktlicher. Da war allerdings Corona, und so gut wie niemand ist gefahren. Ja, wollen wir DAS? Ich habe Angst, dass uns die letzte analoge Oase der Ruhe und Begegnung genommen wird. Wer in Kintsugi nur eine kaputte japanische Vase sieht, wird nie die Schönheit im Defekt der Bahn erkennen: der Zusammenhalt der Reisenden, die in einer Welt digitaler Feindschaften als analoge Schicksalsgemeinschaft einander als fühlende Wesen wiedererkennen. Die Oberleitungsstörung als Demokratieförderprojekt. Wenn Fremde zu Freunden werden. Wenn dir der Mann am Fensterplatz schüchtern die Dose mit den frisch geclippten Fingernägeln zeigt. Wenn dich die junge Frau zwei Reihen hinter dir in ihr in einer Transparenzoffensive in ihr telefonisches Beziehungsgespräch einweiht.
Von diesem kalten Beschleunigungsgehubere werde ich ganz Palla Palla! Ich finde das schade. Ändern Sie nichts, Frau Bahnchefin! Denn die Bahn ist wie die Demokratie selbst: Gewiss nicht perfekt – aber das Beste, was wir haben. Und jetzt zähle ich erst einmal die Klinker am Sackbahnhof Salzwedel – und genieße die innere Einkehr.