Zum 80. Geburtstag von Franz Beckenbauer: Sein Vermächtnis ist weiter spürbar

Er war der Giesinger Lausbub, der Kapitän, der Zürner und Genießer. Franz Beckenbauer hat ein reichhaltiges Erbe hinterlassen – bis heute.

Keine Live-Schalte zur Villa in Salzburg, kein mildes Lächeln unter weißem Haar, kein „Ja mei“ oder „Ja gut, äh…“ ins Mikrofon. Franz Beckenbauer hätte heute seinen 80. Geburtstag gefeiert. Es ist das erste runde Jubiläum, das ohne ihn begangen wird – der „Kaiser“ starb am 7. Januar des vergangenen Jahres. Und doch: Seine Gegenwart lässt sich nicht vertreiben. Sein Erbe liegt im Spiel, in der Bewegung, im Rhythmus eines Sports, den er prägte – genau wie die deutsche Gesellschaft. Beckenbauer war eine Figur, wie sie in der Nachkriegsgeschichte nur selten vorkam: charmant und leichtfüßig, von natürlicher Autorität, zugleich Kind des Volkes und Liebling der Boulevardpresse. Franz Beckenbauer ist nicht tot. Er ist nur nicht mehr da. Und sein Vermächtnis ist bis heute spürbar.

Ein Spiel, das denken kann

Es war, als habe der Fußball plötzlich angefangen, nachzudenken. Geboren 1945 in München, wuchs Beckenbauer im Nachkriegsdeutschland auf – in Giesing, nicht gerade der eleganteste Stadtteil Münchens. Als er 1959 als Jugendspieler erstmals den Trainingsplatz des FC Bayern München betrat, änderte sich alles. Er behandelte den Ball, als wäre er ein Mitspieler, nicht ein zu zähmendes Objekt. Beckenbauer spielte Pässe per Außenrist und durchquerte die gegnerischen Reihen, als würde er über einen frisch gewienerten Parkettboden schreiten. Der Libero – bis dahin ein Abfangjäger im Hintergrund – wurde unter ihm zum ersten Freidenker auf dem Platz. Nicht nur eine Position, sondern eine Idee: dass man auch aus der Tiefe führen kann, ohne zu brüllen. Dass Eleganz nicht das Gegenteil von Effektivität ist, sondern deren Krönung. Das Ergebnis: Schon in seiner ersten Saison als Profi verhalfen er und Gerd Müller (1945-2021) dem FC Bayern zum Aufstieg in die erste Bundesliga und zum heutigen Status als Weltmarke.

Der Kapitän, der zweimal Weltmeister wurde

München 1974. Rom 1990. Zwei Daten und zwei WM-Pokale, mit denen der „Kaiser“ für immer in enger Verbindung bleiben wird. Beim ersten Mal duellierte er sich mit seinem niederländischen Gegenpart Johan Cruyff (1947-2016). Im WM-Finale stemmte er sich im Verbund mit seinen Abwehrkollegen ganz unprätentiös gegen die wütenden Oranje-Angriffe. Beim zweiten Mal rastete er nach Spielende trotz eines 1:0-Sieges gegen Tschechien im Viertelfinale aus, um nach dem Finalsieg allein über den Rasen von Rom zu flanieren. So zeigte er seine höchst ehrgeizige und seine nachdenkliche Seite. Intern war Beckenbauer als akribischer Arbeiter bekannt – von wegen, ihm sei alles zugefallen. Gleichwohl war das intuitive Erfassen von Stimmungen, Spannungen und Talenten vielleicht seine größte Stärke. Geblieben sind legendäre Aussprüche wie „Geht’s raus und spielt’s Fußball!“, mit denen Beckenbauer einen Kontrapunkt zur heutigen, von Datenanalyse geprägten Welt setzt. Leichtigkeit und Freude stehen immer an erster Stelle.

Das Sommermärchen – Deutschland ist von sich selbst begeistert

Im Sommer 2006 lag Deutschland auf einem anderen Planeten – ein freundliches, offenes, hochsommerliches Fußball-Resort und ein echter Weltgastgeber. Und Beckenbauer war sein Gesicht. Er war kein Funktionär, sondern der gute Geist, der mit dem Hubschrauber von Stadion zu Stadion schwebt, um sich der Freude und Leichtigkeit der Menschen zu vergewissern. Beckenbauer war verbindlich, charmant und einladend. Ohne ihn hätte die WM in Deutschland vermutlich nicht stattgefunden. Oder, falls doch, ohne dieses Gesicht, das bei den FIFA-Bossen Türen öffnete, wo andere nur Akten trugen. Dass später Zweifel an der Sauberkeit der Bewerbung laut wurden, ist Teil der späten Erzählung. Doch das Bild bleibt: Beckenbauer im Maßanzug, flankiert von Kinderschwärmen und Funktionären, ein Kaiser ohne Krone. Und ein Land, das sich selbst neu sah und mit seinen Nationalfarben und seiner Identität so unverkrampft umging wie vorher und nachher nie mehr.

Ein Mythos mit menschlichem Makel

In den letzten Jahren wurde es still um ihn – nicht nur aus gesundheitlichen Gründen. Die Causa WM 2006, die Nähe zu dubiosen Figuren im FIFA-Kosmos, die Fragen, auf die nie klare Antworten folgten – das alles hat den Mythos nicht zerstört, aber beschädigt. Spätestens seit den ersten öffentlichen Anschuldigungen im Oktober 2015 steht dieses „ja, aber…“ im Raum, wenn es um Beckenbauer geht. Beckenbauer blieb sich auch hier treu: Er antwortete weder mit Rechtfertigungen noch mit einem Schuldeingeständnis. Sein Vaterherz war da bereits stark angegriffen: Am 31. Juli 2015 starb sein Sohn Stephan. Das Jahr 2015 machte aus dem espritreichen, leichtfüßigen Libero der Nation einen zurückgezogenen, kranken Mann: Herzoperation, sechs Bypässe, Augeninfarkt, Parkinson. Fußball-Fans, die Beckenbauer durch die Jahrzehnte begleitet hatte, brach der Gedanke an ihren leidenden Helden das Herz. Am 7. Januar 2024 erlosch Beckenbauers Lebenslicht.

Die Ikone, die Deutschland spiegelte

Die Rückschau auf Beckenbauers Vermächtnis hält der Nation den Spiegel vor. Wie geht Deutschland mit seinen großen Helden, zum Beispiel auch mit Boris Becker (57), um? Wie sehr überrascht es, dass auch sie „nur“ Menschen sind? Franz Beckenbauer wurde „Kaiser“ genannt, weil er etwas verkörperte, das den Deutschen lange fremd war: eine Form von Souveränität, die nicht angestrengt wirkte. Beckenbauer war nie ein Patriot im klassischen Sinne – aber ein deutscher Charakter, wie man ihn sich manchmal wünschte: weltoffen, erfolgreich, ohne die Anmut zu verlieren. Viel von ihm lebt in seinen Kindern weiter – ein Blick auf das Instagram-Profil seines Sohnes Joel Beckenbauer (25) genügt. Und er hinterlässt die Eckpunkte seines Lebens: Freude, Leichtigkeit und auch eine Spur Lässigkeit à la Monaco Franze. Beckenbauers Aufstieg vom Giesinger Nachkriegskind zum Volkshelden ist unvergleichlich bis heute. Und mit 80 würde uns der Jahrhundert-Fußballer und -Mensch vielleicht raten: „Mehr Außenrist wagen!“ Um uns dann zuversichtlich ins neue Leben zu entlassen: „Geht’s raus und spielt’s Fußball!“