Senkrechtstarter Lipowitz sorgt vor den Augen des französischen Präsidenten für Aufsehen bei der Tour. Bei der Machtdemonstration von Titelverteidiger Pogacar wird der Jungstar unverhofft Dritter.
Florian Lipowitz erklärte an den Mikrofonen schon seinen beeindruckenden Auftritt, da war sein routinierter Kapitän Primoz Roglic noch nicht mal im Ziel. Auf der ersten Hochgebirgsetappe in den Pyrenäen hat der deutsche Rad-Jungstar am steilen Schlussanstieg hinauf nach Hautacam eine klare Antwort auf die Frage gegeben, wer den deutschen Rennstall Red Bull-Bora-hansgrohe bei der 112. Tour de France anführen sollte – und sogar Hoffnungen auf einen Podestplatz in Paris geweckt.
Bei der Machtdemonstration von Titelverteidiger Tadej Pogacar feierte der 24 Jahre alte Lipowitz vor den Augen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron den dritten Tagesrang und kletterte vom achten auf den vierten Gesamtplatz – 5:34 Minuten hinter Pogacar.
Roglic rollte auf der zwölften Etappe mit einem Abstand von 1:45 Minuten nach Lipowitz über die Ziellinie. Ist die Kapitänsfrage damit entschieden?
Lob von Pogacar
„Wir sind ein Team, wir müssen das jetzt in Ruhe besprechen. Wir machen dann einen Plan für die nächsten Tage“, sagte Lipowitz der ARD. Es mache ihn glücklich, dass er hinter den Favoriten Pogacar und dem Dänen Jonas Vingegaard angekommen sei. Schon bei der Dauphiné-Rundfahrt vor der Tour hatte der frühere Biathlet den dritten Gesamtrang hinter den beiden Tour-Dominatoren der vergangenen Jahre gefeiert.
Der beherzte Auftritt und das große Talent von Lipowitz sind auch Gelb-Träger Pogacar nicht verborgen geblieben. „Er ist sehr stark und ein toller Fahrer. Er hat noch Raum für Verbesserungen. Ich denke, wir werden noch viel von ihm in den nächsten Tagen und Jahren sehen“, sagte der Slowene über seinen Widersacher. Ab dem Zeitpunkt seiner Attacke verlor Lipowitz kaum noch Zeit auf den Tagessieger – und näherte sich sogar sukzessive Vingegaard an.
Lipowitz: „Habe meine Chance genutzt“
Der Deutsche war voll zufrieden. „Ich habe meine Chance genutzt und nochmal attackiert und dann bis zum Ziel Vollgas“, sagte Lipowitz kurz nach seiner Ankunft. „Nachdem ich den größten Teil von vorne gefahren bin, dachte ich, ich probiere mal eine Attacke“, fügte er hinzu. Am Mannschaftsbus sagte er mit Blick auf das Bergzeitfahren: „Kurz und superhart. Dann hoffen wir, dass es so weitergeht.“
Sein Teamchef Ralph Denk lobte den jungen Profi, den er selbst damals entdeckt hatte. „Es war ein starkes Signal. Wir wollen jetzt Ruhe bewahren. Er ist wahrscheinlich der Bessere, das hat man heute gesehen. Am Anfang haben sie gut zusammengearbeitet. Ziel war das Podium, das ist zumindest mal realistisch“, sagte Funktionär Denk.
Pogacar dominiert die Konkurrenz
Rad-Weltmeister Pogacar hatte da bei seiner Machtdemonstration die Konkurrenz um Vingegaard längst düpiert. Der Slowene trotzte dem Sturz am Vortag und demonstrierte nach einer seiner explosiven Attacken seine Überlegenheit. Der 26-Jährige eroberte das Gelbe Trikot vom Iren Ben Healy zurück – und zerlegte die chancenlose Konkurrenz sportlich.
„Ich bin total glücklich, dass ich Zeit gutmachen konnte und an diesem Anstieg gewonnen habe“, sagte Pogacar. Er habe nicht gewusst, wie sein Körper auf den Sturz reagiere. Er habe seine Hüfte nur ein bisschen gespürt. Mit einem Abstand von 2:10 Minuten auf Vingegaard feierte er seinen insgesamt 20. Tour-Etappensieg.
In der Gesamtwertung steht der dreimalige Tour-Gewinner Pogacar nun mit einem Abstand von 3:31 Minuten vor Vingegaard. Der Belgier Remco Evenepoel belegt den dritten Gesamtrang 4:45 Minuten hinter dem Gelb-Träger. Doppel-Olympiasieger Evenepoel, Mitfavorit auf das Podium, fiel schon am ersten Anstieg zum Col du Soulor zurück und büßte seinen zweiten Gesamtrang ein. Nun ist Lipowitz der größte Rivale von Evenepoel.
Filmreifes Duell vor drei Jahren
Vor knapp drei Jahren hatten sich Pogacar und Vingegaard schon ein spektakuläres Duell beim Aufstieg nach Hautacam geliefert. Damals wartete Vingegaard nach einem Sturz sogar auf Pogacar. Der Däne schüttelte den entkräfteten Slowenen später ab und ebnete den Weg für seinen ersten Tour-Sieg.
Am Mittwoch stürzte Superstar Pogacar, doch der 26-Jährige kam glimpflich davon. Noch am Abend teilte sein UAE-Rennstall mit, dass sich der Slowene bei dem unglücklichen Sturz keine Gehirnerschütterung oder Brüche zugezogen hatte. Prellungen und Schürfwunden am linken Unterarm gehörten zur Schadensbilanz nach dem Schockmoment knapp vier Kilometer vor dem Ziel.
Der Vorfall hätte durchaus schlimme Folgen für den dreimaligen Tour-Champion haben können. Bei Pogacar war beim Start lediglich ein Verband am Arm zu erkennen. „Mir geht es ganz ok, nicht zu schlecht. Mein ganzer linker Arm ist offen, aber nur abgeschürfte Haut“, sagte er.
Tödliches Unglück überschattet Etappe
Auch Pogacar reagierte am Rande der Etappe auf den tragischen Tod des 19 Jahre alten Nachwuchs-Radsportlers Samuele Privitera. Der junge Mann kam am Mittwoch bei einem Radrennen in Italien zu Sturz und verstarb später im Krankenhaus. „Es ist sehr traurig, ein weiteres junges Talent zu verlieren“, bedauerte Pogacar.
Auch die Tour nahm Anteil am tragischen Tod. Vor der Etappe wurden die Fahrer und die Zuschauer im Startort Auch gebeten, eine Minute zu Ehren von Privitera zu applaudieren. Pogacar widmete seinen Sieg dem verstorbenen Nachwuchsfahrer.