Ihre Seele schmerzt, und Sie suchen im Netz nach einem Heiler oder einem Coach? Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie bitte diese Kolumne.
Über geistige Gesundheit wird meist mit zwei Schlagworten geredet, die eher nach einem Versicherungskonzern oder einer schlechten Rockband klingen: Mental Health. Das könnte eine gute Bewegung sein, doch sie artet – besonders in den sozialen Medien – zu einer Art Sagrotan des Innenlebens aus: Bitte alles möglichst antiseptisch! Allerorten finden sich Influencer, Pseudo-Coaches und spirituelle Heiler, die die normalsten Dinge der Welt für ungesund erklären. Sie bieten Heilung an, natürlich gegen viel Geld und oft ohne akademische Qualifikation.
Viele Influencer wollen gern Guru werden. Gefährlich wird es, wenn sie dabei auf Menschen stoßen, die ernsthaft leiden, die Hilfe brauchen, aber lange auf einen Therapieplatz warten müssen. Ein fataler Erste-Hilfe-Kasten, wie die britische Zeitung „The Guardian“ herausfand. Deren Redaktion legte die 100 erfolgreichsten Tiktok-Videos zum Thema Mental Health professionellen Psychiatern und Therapeuten vor. Ergebnis: Jedes zweite Video enthielt Falschinformationen; so wurde etwa bei Angststörungen dazu geraten, unter der Dusche eine Orange zu essen.
Für junge Menschen ist diese Beeinflussung gefährlich: Sie inspizieren ihr Inneres, das sie gerade erst kennenlernen, mithilfe dubioser Heiler. Unausgebildete Therapeuten definieren seelische Probleme, stellen Erziehungsmethoden und Eltern infrage, philosophieren über Erschütterungen – und suggerieren ihren Followern, sie brauchten dringend Hilfe. So beginnt eine Spirale der Selbstoptimierung, die viele in einen Dauerstress führt, getrieben von gut gemeinten, aber schlecht fundierten Ratschlägen. Wer weiß, wie viel Geld die Kosmetikindustrie durch Schminkvideos für Mädchen verdient, kann die Dimension des Einflusses solcher Videos auf Jugendliche erahnen. Hier geht es aber nicht um Lipgloss und den schönen Schein, sondern ums menschliche Sein.
Alles toxisch – oder was?
Mental-Health-Influencer kapitalisieren die Unsicherheit und Einsamkeit unserer Zeit, sie werfen mit Begriffen aus der Psycho-Bubble um sich, bis ihre Jünger anfangen, ihre Umgebung mit Pseudodiagnosen zu schikanieren, weil sie angeblich einer toxischen Person gegenüberstehen, die schlecht sei für ihre mentale Gesundheit. Konflikt und Resilienz gehört in diesen Sphären so wenig dazu wie die Höhen und Tiefen des Alltags. Meistens sollen sie inneren Frieden finden durch Abkehr von jenen, die „schlechte Gefühle“ in ihnen auslösen – als wäre nicht das meiste, das sich zwischen uns Menschen abspielt, ambivalent.
Neulich sah ich eine Influencerin auf Instagram: Sie erklärte, bei Schmetterlingen im Bauch, die flattern, wenn man sich verliebe, sei Vorsicht geboten. Eine Red Flag seien diese Schmetterlinge gar! Die Person gegenüber sei vermutlich toxisch, sonst ginge das Verlieben mit Ruhe und Frieden einher. Vielleicht war das für Yoko Ono und John Lennon und ein paar andere Gesegnete so. Aber für die meisten Menschen ist der Moment, in dem ein Unbekannter eine unvorhergesehene Bedeutung im eigenen Innenleben einnimmt, eine aufregende, verwirrende, mal auch unangenehme Erfahrung – aber sie ist doch nicht ungesund. Das Ungewisse gehört zur Unordnung der Dinge. Da fürchten wir uns vor Robotern und KI, sehen aber passiv zu, wie Desinformationsmaschinen künstlich gesunde Menschen produzieren wollen.
In Großbritannien fordern jetzt echte Experten für seelische Gesundheit vom Staat, er solle das Netz regeln. Das ist mir lieber als Dilettanten, die unsere wilden Köpfe domestizieren wollen.