Seit 2015 haben zivile Seenotrettungsorganisationen nach eigenen Angaben mehr als 175.000 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet. Die insgesamt 21 Organisationen, davon zehn aus Deutschland, zogen am Mittwoch eine Bilanz ihrer zehnjährigen Arbeit. Dabei kritisierten sie scharf die Untätigkeit der Regierenden angesichts des Sterbens im Mittelmeer und forderten ein Ende der politischen Blockade von Rettungseinsätzen.
Ungeachtet der zivilen Anstrengungen mit aktuell 15 Rettungsschiffen, sieben Segelbooten und vier Flugzeugen seien seit 2015 mindestens 28.932 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer gestorben oder verschwunden, teilten die Organisationen mit. Mehr als 21.700 Todesfälle seien allein im zentralen Mittelmeer zwischen Libyen, Tunesien, Italien und Malta registriert worden, sagte Mirka Schäfer von der Organisation SOS Humanity. Dies seien durchschnittlich fünf Erwachsene und ein Kind pro Tag. Von einer hohen Dunkelziffer sei auszugehen.
Schäfer forderte vor allem die EU-Staaten auf, dagegen „endlich Verantwortung zu übernehmen“. Aktuell ließen diese „wissentlich tausende Menschen ertrinken oder in Folterlager verschleppen“, indem sie Notrufe ignorierten und die Arbeit der zivilen Rettungsteams behinderten. So seien allein durch die italienischen Behörden seit 2023 in 28 Fällen zivile Rettungsschiffe zeitweise festgesetzt worden, Zuweisungen an weit entfernt liegende Häfen verursachten Kosten, gefährdeten Menschenleben und verringerten Einsatzzeiten der Schiffe entlang der Fluchtrouten.
„Wir übernehmen die Rolle, die eigentlich Aufgabe staatlicher Stellen wäre“, sagte Lisa Groß von der Organisation Alarm Phone, die Hilferufe entgegennimmt und Rettungsaktionen koordiniert. Die Küstenwachen besonders von Italien und Malta gäben jedoch lediglich Informationen an die libysche Küstenwache weiter, „damit sie die Menschen in Libyen in Folterlager bringen“. Vor allem die EU-Staaten Italien und Malta unterstützten solche illegalen Rückführungen Geflüchteter nach Libyen und auch nach Tunesien.
Finanziert werden die zivilen Rettungseinsätze vor allem durch Spenden. Sandra Bills von der Organisation United4Rescue verwies auf ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis, engagierter Menschen und Organisationen, die „dem Sterben im Mittelmeer nicht tatenlos zusehen wollen“. Sie wandte sich auch gegen eine Kriminalisierung von Seenotrettung: „Unsere gemeinsame Solidarität ist kein Verbrechen, das Sterben auf See ist ein Verbrechen“, sagte Bills. Neben dem Mittelmeer gibt es Rettungseinsätze auch in anderen Seegebieten wie dem Ärmelkanal.
Die beteiligten Organisationen fordern die EU und ihre Mitgliedsstaaten auf, wieder eine staatliche Seenotrettung entlang den Fluchtrouten auf den Weg zu bringen, die es seit dem Ende der Operation „Mare Nostrum“ 2014 nicht mehr gibt . Sie schlugen dafür eine neue Operation „Mare Solidale“ (deutsch: „Solidarisches Meer“) vor. Diese solle gestützt auf bereits vorhandenen EU-Strukturen des Katastrophenschutzes und der humanitären Hilfe gemäß den Regeln des Seerechts die Suche nach gefährdeten Geflüchteten sowie deren Erstaufnahme in EU-Staaten organisieren.
„Solange es kein europäisch koordiniertes Seenotrettungsprogramm gibt, werden weiterhin Tausende Menschen bei dem Versuch sterben, die EU zu erreichen – oder in einem grauenhaften Gewaltkreislauf in Libyen gefangen bleiben“, sagte dazu Giulia Messmer von der Organisation Sea Watch. Notwendig sei „europäische Solidarität statt europäischer Gewalt“. Messmer forderte auch die Bundesregierung auf, den Vorschlag zu unterstützen und sich zudem für sichere legale Fluchtwege einzusetzen.
Scharfe Kritik übten die beteiligten Organisationen hingegen an der restriktiveren Migrationspolitik der aktuellen Bundesregierung. Durch den Ausstieg aus Aufnahmeprogrammen und die Aussetzung des Familiennachzugs für bestimmte Gruppen Geflüchteter seien sogar vorhandene legale Fluchtwege abgebaut worden, kritisierte Messmer.
Die Grünen-Abgeordneten Marcel Emmerich und Filz Polat forderten anlässlich der Vorstellung der Zehn-Jahres-Bilanz dazu auf, zivile Seenotrettung nicht länger zu kriminalisieren. Sie forderten eine „menschenwürdige Migrationspolitik“ statt populistischer Abschottung. Auch unterstützten sie die Forderung nach einer neuen EU-Rettungsmission.