Air-India-Flug 171: Führte ein kompletter Triebwerksausfall zum Absturz?

Was führte zum Flugzeugabsturz der Air-India-Maschine? Die Blackboxes werden nun untersucht. Ein erfahrener US-Pilot sieht davon unabhängig Indizien für ein kapitales Problem.

Ermittler haben inzwischen beide Flugschreiber der Boeing 787-8 sichergestellt, die am Donnerstag unmittelbar nach dem Start im westindischen Ahmedabad abgestürzt war. Bei dem Unglück waren mindestens 279 Menschen ums Leben gekommen. Die Experten hoffen nun, beide Blackboxes  – den digitalen Flugdatenschreiber und den Stimmenrekorder – auswerten zu können, um zu verstehen, warum die Piloten die Kontrolle über die Maschine verloren.

Der erfahrene amerikanische Berufspilot Steve Scheibner, 64, spricht seit längerem auf Youtube unter dem Namen „Captain Steeeve“  über Zwischenfälle und Unglücksfälle in der Zivilluftfahrt. In seinem aktuellen Video „Why the RAT Changes Everything“ nennt Scheibner Indizien dafür, dass es beim Start der Air-India-Maschine einen kompletten Triebwerksausfall gegeben haben könnte. Im Mittelpunkt steht die RAT genannte Notfallturbine. Wohl gemerkt: Es handelt sich um eine Vermutung – die Scheibner allerdings gut begründet.

Captain Steeev

Grundsätzlich gilt: Ein Flugzeug muss für den Start so konfiguriert sein, dass es auch beim plötzlichen Ausfall eines Triebwerkes sicher abheben (und dann notlanden) kann. Ein doppelter Triebwerksausfall beim Start ist extrem unwahrscheinlich und extrem gefährlich: Das Flugzeug ist sehr langsam und fliegt sehr niedrig – die Handlungsoptionen für Piloten verrinnen binnen Sekunden. Die prekäre Lage für Mensch und Maschine in einem solchen Fall hat der deutsche Pilot und Youtuber Pascal Schmidt ganz grundsätzlich und ziemlich eindrucksvoll mit zwei Wassergläsern erklärt (siehe ab 9:00 Min.): 

Pascal Schmidt

Flugzeugabsturz: War die RAT im Einsatz – und was bedeutet das?

Wie kommt Boeing-Pilot Steve Scheibner nun zu seiner Vermutung, dass auch die Air-India-Maschine von einem doppelten Triebwerksausfall betroffen gewesen sein könnte? Der Experte bezieht sich auf eines der Videos, die vom Absturz kursieren. 

Es wurde angeblich von einem 16 Jahre alten Jungen von einem Dach aus aufgenommen und besitzt im Original eine vergleichsweise gute Auflösung – plus Ton. Durch die Analyse von Bild und Ton kommt Scheibner zu folgenden Schlüssen:

Es gibt Indizien dafür, dass unmittelbar nach dem Start die so genannte RAT ausgefahren war. RAT steht für „Ram-Air-Turbine“. Dabei handelt es sich um ein Notfallsystem, bei dem mittels eines ausgeklappten Propellers hydraulischer Druck und elektrische Energie erzeugt wird. Der Propeller wird nur vom Wind angetrieben. Im Normalfall liefern die Triebwerke die Energie für die Betätigung der Steuerflächen oder für die elektrischen Systeme an Bord. Kommt es durch einen Ausfall aller Triebwerke zu einem kompletten Energieausfall, werden mithilfe der RAT die unbedingt notwendigen Systeme versorgt, um das Flugzeug noch steuern zu können. Das Video der abstürzenden Maschine zeigt in Scheibners Version von hinten betrachtet und in der Vergrößerung unter der rechten Tragfläche eine kleine Struktur, bei der es sich nach Ansicht des Piloten um den ausgefahrenen RAT-Propeller handelt.Dafür, dass die RAT in Betrieb war, spricht laut Scheibner auch die Tonaufnahme der vorbeifliegenden Unglücks-Boeing. „Die RAT macht ein sehr charakteristisches Geräusch“, so der Experte. Tatsächlich ist im Video ein Geräusch zu hören, das dem eines vorbeifliegenden Propellerflugzeugs ähnelt.Drittes Indiz: Der einzige Überlebende des Absturzes, der auf Platz 11A gesessen hatte und wie durch ein Wunder nur mit leichten Verletzungen aus der Maschine entkam, hatte angegeben, er habe noch in der Luft einen lauten Knall gehört, und dann habe die Kabinenbeleuchtung geflackert. Dies passe, so Pilot Scheibner, ebenfalls zu einem massiven Triebwerksversagen und dem Ausfahren der RAT.

Warum aber könnten beide Triebwerke zugleich versagt haben? Das bleibt weiterhin vollkommen unklar. Nach bisherigem Wissensstand gab es offenbar keinen Vogelschlag – der beispielsweise 2009 zu einem doppelten Triebwerksausfall eines Airbus A320 geführt hatte.

Die Maschine war damals beim US-Airways-Flug 1549 nach dem Start in New York La Guardia in einen Schwarm Kanadagänse geflogen. Durch den Vogelschlag setzten beide Triebwerke aus, Kapitän Chesley Sullenberger gelang eine spektakuläre Notwasserung auf dem Hudson River.

Welche Gründe könnte es grundsätzlich sonst noch für einen kompletten Triebwerksausfall geben? Theoretisch denkbar wäre – unter anderem – ein Software-Problem oder ein Problem mit der Kraftstoffversorgung durch eine technische Fehlfunktion oder durch verunreinigten Kraftstoff. Die weiteren Untersuchungen werden hoffentlich zu einem eindeutigen Ergebnis und einem ebensolchen Abschlussbericht führen.