Familien mit unheilbar kranken Kindern stehen vor besonderen Herausforderungen. In Hessen werden sie von drei Kinderpalliativteams unterstützt. Eines davon baut gerade ein neues Angebot auf.
Erkranken Kinder oder Jugendliche schwer, stellt das die ganze Familie vor große Herausforderungen. Unterstützungen bieten in Hessen die drei Kinderpalliativteams Nord-, Mittel- und Südhessen. Ihr Hauptziel: die Linderung leidvoller Symptome wie Atemprobleme oder Schmerzen beim Kind und die Stärkung der Familie. Im Rahmen der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) ermöglichen sie es, dass unheilbar kranke Kinder bis zuletzt zu Hause im Kreis ihrer Familie bleiben können.
In Kassel entsteht mit dem „Kleine Riesen Haus“ dafür nun ein weiterer Baustein. Eltern lernen dort, wie sie ihr schwer krankes Kind zu Hause pflegen können. Das hessenweit einzigartige Angebot soll eine Schnittstelle zwischen den stationären Versorgungsstrukturen im Krankenhaus und der Betreuung zu Hause sein.
„Wir erleben zum einen, dass es immer weniger ambulante Pflege gibt, besonders für Kinder und Jugendliche, weil spezialisierte Fachkräfte fehlen“, sagte der Leiter des Kinderpalliativteams „Kleine Riesen Nordhessen“, Thomas Voelker. Zugleich gebe es eine steigende Inzidenz an chronisch kranken Kindern von Geburt an, die dank der guten medizinischen und pflegerischen Unterstützung heute länger lebten als früher. „Wir haben daher in der Fläche mehr Familien mit einem chronisch kranken Kind, die Betreuung brauchen, die wir aber so gar nicht mehr haben.“
Anleitung zur Pflege zu Hause
Im „Kleine Riesen Haus“ können voraussichtlich ab Ende 2026 bis zu acht Familien wenige Wochen bis zu drei Monaten aufgenommen und in der Pflege ihres Kindes angeleitet werden. Sie lernen dort unterstützt von einem interdisziplinären Team aus Pflegekräften, Ärzten, Psychologen und Therapeuten, was zu beachten ist, welche Hilfsmittel wie am besten eingesetzt werden oder was zu tun ist, wenn kein ambulanter Kinderpflegedienst verfügbar ist. Dafür können sie nach einem Klinikaufenthalt, aber auch von zu Hause aufgenommen werden.
„Wir schauen, was die Familie jeweils braucht“, sagt Voelker. Eltern sollten Antworten bekommen auf Fragen wie: Wozu sind die ganzen technischen Hilfsmittel da? Wie wechsele ich Kanülen? Wie gehe ich mit einem Beatmungsschlauch um? „Es geht auch um ganz banale, alltägliche Dinge, die wir üben wollen“, erläutert Voelker. „Wie gehe ich beispielsweise mit meinem schwer kranken Kind mit dem Rehabuggy und dem Sauerstoff und der Absaugung einkaufen?“.
Förderung von Land und Stadt
Rund acht Millionen Euro fließen laut Voelker in den Neubau. Das Land Hessen fördere das Projekt mit zwei Millionen Euro, die Stadt Kassel mit einem Baukostenzuschuss in Höhe von 500.000 Euro. Mit der AOK Hessen sei ein Vertrag über die Pflegekurse geschlossen worden.
Das Angebot richtet sich an betroffene Familien in der Mitte Deutschlands – von Hannover bis Koblenz und von Bielefeld bis Jena. Deutschlandweit gibt es Voelker zufolge bislang nur ein vergleichbares Projekt in Hamburg, mit dem man sich bei der Entwicklung des Kasseler Konzepts eng ausgetauscht habe. Dort sei für die Elternschule allerdings kein eigenes Haus gebaut worden. „Wir bauen also bundesweit das erste Gebäude für diese neue Überleitungspflege.“
Verband beklagt Fachkräftemangel
Der Hospiz- und Palliativverband Hessen begrüßt das Projekt in Kassel. „Das Haus wird einen ganz großen Beitrag für die Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Hessen darstellen“, sagt Bettina Mathes, Referentin für Hospizarbeit. „Egal ob Süd-, Nord- oder Mittelhessen, uns eint die Tatsache, dass wir nicht ausreichend Fachkräfte haben, um die Bedarfe der Familien vor Ort decken zu können.“ Vor diesem Hintergrund bleibe den Familien kaum etwas anderes übrig, als Experten für die Versorgung ihres Kindes zu werden. „Da ist das „Kleine Riesen Haus“ ein wirklich sensationeller Beitrag.“
Dem hessischen Gesundheitsministerium liegen nach eigenen Angaben keine Hinweise zu einem Fachkräftemangel im spezifischen Bereich der Kinder- und Jugendpalliativversorgung vor. Das Land stehe an der Seite der Kinder und Familien und setze sich dafür ein, dass sie die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, hieß es. Es habe die Bedeutung des „Kleine Riesen Hauses“ erkannt und unterstütze es deshalb finanziell.
Breites Spektrum an Erkrankungen
„Wir sind eines der wenigen Teams, das momentan das große Glück hat, dass wir pflegerisch gut besetzt sind“, sagt die Leiterin des Kinderpalliativteams Mittelhessen am Universitätsklinikum Gießen, Vera Vaillant. „Ich kenne aber kein Kinderpalliativteam, das nicht zumindest Phasen hat, in denen es massivsten Fachkräftemangel gibt.“ Es gebe zu wenig spezialisierte Pflegende und Ärzte in dem Bereich.
Dabei erfordern die Erkrankungen genau diese Spezialisierung. „Wir versorgen Kinder mit einem ganz breiten Spektrum an Erkrankungen. Dazu zählen etwa Kinderdemenz, angeborene Stoffwechselerkrankungen, Herzfehler oder andere Organstörungen, Hirnschädigungen und Krebserkrankungen“, berichtet Vaillant. Viele der Krankheiten seien sehr selten.
Neben dem Fachkräftemangel sei die Tabuisierung von Tod und Sterben in der Gesellschaft das größte Problem. „Viele Familien wissen daher nicht, dass Palliativversorgung nicht erst dann anfängt, wenn man nichts mehr machen kann“, schildert Vaillant. „Wir Palliativmediziner und Pflegende wissen, dass es einfach in jeder Situation etwas gibt, was man einem schwer kranken Menschen Gutes tun kann. Das ist zwar keine Heilung, aber Schmerzen zu lindern, Atemnot zu lindern, Angst zu nehmen, menschlichen Kontakt zu haben, schöne Erlebnisse zu ermöglichen, das ist ja nicht Nichtstun.“
Auf Spenden angewiesen
„Jeder Mensch und jede Familie ist sehr individuell im Annehmen von Angeboten und von Unterstützungsmöglichkeiten“, sagt Boris Knopf vom Kinderpalliativteam Südhessen in Frankfurt. „Aber wenn erst einmal Vertrauen aufgebaut werden konnte – und dafür brauchst du natürlich auch ein bisschen Zeit – wird das als sehr entlastend wahrgenommen.“
Viele der Familien seien auch finanziell belastet, weil nicht beide Eltern normal arbeiten gehen könnten – und das teilweise über Jahre. Um sie bei Aspekten der Versorgung zu unterstützen, die nicht von der Krankenkasse übernommen werden, wie etwa psychologische und sozialarbeiterische Tätigkeiten im Team, seien die Kinderpalliativteams auch auf Spenden angewiesen.
„Es gibt viele Lücken, die über Spenden finanziert werden“, schildert Knopf. „Wir sind sehr dankbar für alle Menschen, die sich in den unterschiedlichen Projekten engagieren und die offen dafür sind, dass es einen Bedarf gibt.“